mitschuss.at: „Ich dachte, ich werde sterben.“

Ein Klick. Ein Schuss. Eine Kugel, die auf Haut trifft. Durch Haut schießt. Sich in Haut brennt. Wie fühlen sie sich an? Diese Sekunden nach dem Schuss. Wie Sterben?

Reportage von Salma Imara und Maryna Tverdokhlib.

mitschuss.at ist ein Rechercheprojekt von Studierenden des Bachelor-Studiengangs „Journalismus & Medienmanagement“, bei dem Schusswaffen in Österreich ins Visier genommen werden. Entstanden im Sommersemester 2018.


„Timur, Bruder, komm schnell zum Park. Es gibt Stress.“ Drei Typen haben sich mit Timurs Freunden angelegt. Haben von ihnen Schläge kassiert. Sind wütend geworden. Richtig wütend. Sie würden es ihnen heimzahlen, haben sie gesagt, sie würden wiederkommen. Diesmal mit Waffen. Jetzt will Timurs Freund, dass er mitkommt – er will sie zuerst finden. Die vier Tschetschenen laufen los. Es ist Abend, die Luft beißend kalt. Die drei Männer von vorhin stehen vor der Garage eines Einkaufszentrums. Reden. Lachen. Das Blut pocht in Timurs Ohren. Er ist angespannt. Bereit. Gleich geht es los. Einer der Männer bemerkt sie. Kneift die Augen zusammen. Dann zückt er eine Pistole. Timur und seine Freunde dürfen keine Angst zeigen. Der Typ blufft nur. Das ist keine echte Waffe. Bestimmt nicht. Sie gehen weiter.

Peng. Peng. Peng.

Das war kein Bluff.

„Hätte ich gewusst, dass es eine echte Waffe ist, hätte ich vielleicht Angst gehabt, aber da habe ich es halt nicht realisiert. Ich dachte, es ist eine Schreckschusswaffe oder ein Gummigeschoss oder so. In meinem Kopf war einfach nur: Wie packe ich ihn, bevor er irgendwas macht?“ Timur nippt an seiner Cola. Zuckt mit den Schultern. Drei Jahre ist der Schuss her. Er sieht das Ganze gelassen. „Es ist eine Erfahrung, die ich gemacht habe. Nicht mehr, nicht weniger.“

Laute Musik schallt aus dem Shoppingcenter. Die Straße ist leer. „Ich wurde am Bein getroffen“, schreit Timurs Freund. Er fällt. Noch ein Schuss. Sein anderer Freund keucht. Alles passiert zu schnell. Timur will den Schießenden aufhalten. Läuft auf ihn zu. Schuss. Schuss. Schuss. Plötzlich durchzieht Schmerz seine Brust. Timur ignoriert ihn. Seine Gedanken rasen. Es ist sicher nur ein Gummigeschoss. Nur ein Gummigeschoss. Timurs Schulter fühlt sich taub an. Er hat den Schützen erreicht. Wirft ihn zu Boden. Die Waffe fällt scheppernd auf die Straße. Leer. Timur schießt das Adrenalin durch die Adern. Er atmet schwer. Der Mann löst sich aus Timurs Umklammerung. Timurs Arm wird langsam taub. Die drei Männer laufen los. Die Pistole nehmen sie mit.

Doch kein Gummigeschoss.

Timur streicht über sein dunkles Polohemd. Deutet auf die Stelle unterhalb seiner Brust. Hier ungefähr hat ihn die Kugel getroffen. Mitten in die Lunge. „Hast du jemals einen Elektroschock bekommen? Es ist, als würde jemand so richtig fest mit der Faust hinschlagen und dir gleichzeitig einen Elektroschock verpassen.“ Die Narben will er nicht zeigen. Sie stören ihn. Timur mag das Konzept von Waffen nicht. „Früher, wenn man Stress hatte, hat man das mit Fäusten geklärt. Aber alle sind feige geworden. Nehmen Pistolen mit, Messer. Aus dem Grund habe ich mir nie eine Waffe gekauft. Weil ich Angst hatte, dass ich sie dann irgendwann verwende.“ Die Zeiten sinnloser Schlägereien hat er hinter sich gelassen. Er arbeitet. Macht einen Bürojob. Hat kaum Kontakt zu den Leuten von damals. „Sowas macht man, wenn man jung und dumm ist. Weißt du, die Leute haben dieses Bild von gefährlichen Tschetschenen im Kopf. Und das gefällt den Jugendlichen. Ihnen gefällt dieses Image. Sie wollen so werden. Tun auf hart. Kommen in solche Situationen. Irgendwann ist man zu alt dafür.“

Timurs Brust schmerzt. Seine Schulter. Sein Arm. Er ignoriert es. Der Beat der Musik pocht in seinen Schläfen. Hallt in seinen Ohren. Die vier Freunde gehen zurück zum Park. Timur ist schwindlig. Übelkeit steigt in ihm hoch. Er lässt sich auf eine Parkbank fallen. Sein Atem geht schwer. Er saugt die Luft ein. Es hilft nicht. Zumindest nicht viel. Auf Timurs Stirn glitzern Schweißperlen. Rinnen ihm über die Schläfen. „Bruder, ich glaube ich wurde getroffen“, stößt er hervor. Sein bester Freund glaubt ihm nicht. Schüttelt den Kopf: „Mann, erzähl keinen Scheiß. Man sieht ja nichts.“ Er deutet auf seine Jacke. Timur weiß, etwas stimmt nicht. Er will keine Szene vor den anderen Jungs machen. Steht auf und geht zu einer Bank im Schatten eines Baumes. Punkte tanzen vor seinen Augen. Er öffnet seine Jacke. Zieht scharf die Luft ein. Sein Hemd ist blutdurchtränkt. Er öffnet die Knöpfe. Verbrannte Haut. Ein kleines Loch. Genau bei der Brust.

„Ich dachte, ich werde sterben. Aus irgendeinem Grund habe ich geglaubt, es hat mein Herz getroffen. War einfach richtig dumm, sonst wäre ich ja wahrscheinlich in der selben Sekunde tot.“ Timur schüttelt lachend den Kopf. Er erzählt in beiläufigem Ton. Erzählt von der Kugel, die durch seine Lunge geschossen ist. Von Operationen ohne Narkose. Von einem Monat Krankenhaus.

Timur setzt sich auf die Bank. Das war es. Mitten ins Herz. Ins Herz. Sterben. Timur spürt es. Er wird sterben. Sein Atem wird knapp. Knapper. Er schließt die Augen. Denkt nach. Über seine Sünden. Seine Fehler. Seine Familie.  Kneift die Augen zusammen. Bereut. Betet. Alle Gebete, die er kennt. Bittet um Vergebung. Das war es. Er wird sterben. So viele Fehler. Er atmet ein. Atmet aus. Timurs bester Freund kommt zu ihm. Sieht die offene Jacke. Das blutige Hemd. Verbrannte Haut. Panik steht in seinen Augen: „Timur. Scheiße. Wir müssen einen Krankenwagen rufen!“ Timur hört seine Stimme nur von Weitem. Reagiert nicht. Sein Freund wird lauter. Setzt sich neben ihn. Timur sieht ihn an. Die Luft bleibt ihm weg. Er will heim. „Bring mich einfach nach Hause.“ Er will zu seinen Eltern. Nur zu seinen Eltern. Sein Freund sieht nach, ob die Kugel hinten wieder raus ist. Sie ist nicht ganz durchgegangen. Timur konzentriert sich aufs Atmen. Ein. Und aus.

„Ich wollte zu meinen Eltern, weil ich dachte, es ist vorbei. Das war einfach logische Schlussfolgerung. Genau an der Stelle war das Loch. Was soll sonst passieren?“ Timur deutet auf seine linke Brust. „Irgendwann ist die Rettung gekommen. Die Sanitäter haben irgendwelche Fragen gestellt. Sie haben mein Lieblingshemd zerschnitten.“ Er streicht sich durch die dunklen Haare: „Vielleicht sollte ich mich beschweren. Hab dieses Hemd geliebt.“ Seine Lippen umspielt ein sarkastisches Lächeln. Er lässt sich keine Gefühle anmerken. Es ist nicht seine Art.

Timurs Freund redet auf ihn ein. Ein anderer gibt ihm Cola. Zu viel Lärm. Zu viele Menschen. Zu wenig Luft. Timur will nach Hause. Er ist müde. Versucht sich hinzulegen. Aber sein Rücken blockiert. Es geht nicht. Er setzt sich wieder auf. Atmet schwer. Seine Brust brennt. Sein Hals schmerzt. Immer mehr Jugendliche versammeln sich um ihn. Zu viele Stimmen, Fragen, unbekannte Gesichter. Einer beäugt ihn neugierig. Kommt näher. „Bruder, kann ich ein Foto machen? Macht es dir eh nichts aus?“ Timur starrt ihn ungläubig an. Sein Atem geht stoßweise. Timurs Freunde vertreiben den Jungen. Die Rettung kommt an. Timur atmet. Ein. Aus.

„Tausend Anrufe hab‘ ich an diesem Tag von meinen Eltern bekommen. Danach durfte ich eine Weile nicht raus. Weil sie gesagt haben, dass ich die ganze Zeit nur Blödsinn mache. Meine Mutter hat viel geweint in der Zeit.“ Timurs Blick wird ernst. „So will ich sie nicht sehen.“

Im Krankenhaus schneiden sie ihn hinten auf. Holen die Kugel raus. Vorne brechen sie ihm eine Rippe, um einen Schlauch in seine Lunge zu stecken. Die Krankenpfleger halten Timur etwas vors Gesicht, damit er es nicht mitansehen muss. Die Decke spiegelt. Timur sieht alles.

Nach diesem Vorfall habe ich irgendwie mehr Mut bekommen als vorher. Vor Waffen habe ich auf jeden Fall keine Angst mehr“, sagt er trocken. Er hatte Glück. Heute erinnern nur Narben an den Schuss. Und sein Arm, der manchmal taub wird, wenn er Schweres hebt. Ein kleiner Preis, wie er findet. Er lebt. Das zählt.

Am ersten Tag im Krankenhaus kommen Polizisten in Timurs Zimmer. Stellen viele Fragen. Warnen Timur. Er dürfe keinem der Männer auch nur zu nahe kommen. „Wir wissen, wir ihr Tschetschenen seid. Ihr seid auf Rache aus.“ Timur widerspricht nicht.

„Am Anfang wollte ich ihm genau das antun, was er mir und meinen Freunden angetan hat. Heute will ich eigentlich nur, dass er gefangen wird. Angeblich ist Interpol hinter ihm her. Keine Ahnung.“ Ob er es bereut? Timur schüttelt den Kopf. „Das war eine Erfahrung, die ich machen musste. Ich war jung und dumm. Heute ist es nur noch eine Geschichte, die man erzählt.“

 *Alle Namen wurden von der Redaktion geändert.